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Möbel für die Nager-Zelle

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Datum: 21.08.2003, 12:33 Uhr
In öden Plastikkäfigen verblöden die rund eine Million Versuchsmäuse in Deutschland. Nun fragen Experten: Welchen Wert hat Forschung an kranken Tieren?

Hanno Würbels Mäuse leben in einer Zwei-Klassen-Gesellschaft: Links im Laborstall der tiermedizinischen Fakultät der Gießener Uni teilen sich jeweils vier der grau-schwarzen Nager einen Kunststoffkäfig. Die Behausung misst 32,5 mal 16,5 Zentimeter und enthält nichts als Sägespäne; eine Trinkflasche ragt von oben in den Käfig, zu fressen gibt es zu Mini-Briketts gepresstes Trockenfutter.
Nebenan bewohnt eine zweite Gruppe wahre Luxuskäfige, viermal größer als die der Artgenossen und ausgestattet wie kleine Abenteuerspielplätze. Die Nager haben ein rotes Plastikhaus, einen tunnelförmig aufgebohrten Ast mit mehreren Ausgängen, ein Klettergerüst aus zwei Ästen und einen Haufen Stroh für den Nestbau. Damit die Heimstatt spannend bleibt, gibt es jeden Dienstag und Freitag einen neuen Einrichtungsgegenstand.

Würbel ist Professor für Tierschutz und Verhaltensforschung, doch bei seinen Versuchen geht es gar nicht primär um das Wohl der Maus. Würbel, 40, will wissen, welche Folgen der Wohnkomfort der Mäuse für den Menschen hat - indem er sich nämlich auf die Ergebnisse von Tierversuchen auswirkt.

Enge Käfige ohne jegliche Zerstreuung für die Tiere sind die Norm in den meis-ten Labors. Möglichst geringe Variationen in der Umwelt sollen die Daten aus Tierversuchen weltweit vergleichbar machen. Doch glaubt man Würbel und einer wachsenden Zahl seiner Forscherkollegen, könnte gerade die gängige Standardhaltung manche Ergebnisse verfälschen.

Als Doktorand an der ETH Zürich filmte Würbel Labormäuse während ihrer nächtlichen Aktivitätsphase. Die meisten der kleinen Nager verbrachten die Nächte mit scheinbar sinnloser Aktivität. Einige knabberten an den Gitterstäben ihrer Käfigdeckel, andere rannten ohne Unterlass im Kreis herum oder schlugen endlose Folgen von Rückwärtssaltos.

"Beinahe 90 Prozent der Mäuse zeigten stereotype Verhaltensweisen, wie man sie auch von Raubtieren im Zoo kennt", erzählt Würbel. Andere Mäuse, denen der Wissenschaftler Spielzeug in den Käfig legte, verhielten sich unauffälliger. Joseph Garner von der University of California in Davis hat solche Stereotypien erforscht und ist überzeugt, dass sie Ausdruck einer dauerhaften Hirnschädigung sind.

Welchen Wert aber, argumentieren Würbel und Garner, hat Forschung an kranken Tieren? "Früher wurden vor allem toxikologische Experimente mit Mäusen gemacht", erläutert Würbel, "dafür braucht es nur eine simple Physiologie."

Heute jedoch soll das Modell Maus auch Informationen über neurowissenschaftliche Grundlagen höchst komplexer Prozesse wie Lernen, Gedächtnis, Angst, Sucht und Depression liefern. Tausende Spezialzüchtungen von "Mus musculus" mit ausgewählten Gendefekten, mit zusätzlichen oder fehlenden Genen sollen helfen, Krankheiten des Menschen zu enträtseln und neue Therapien zu finden.

Gut die Hälfte der jährlich etwa zwei Millionen Vesuchstiere, die in Deutschland für Forschungszwecke verwendet werden, sind Mäuse; in den USA werden pro Jahr sogar rund 20 Millionen Labormäuse geboren. "In der Wissenschaft gilt die Maus heute als das wichtigste Modell für Krankheiten des Menschen", heißt es in einer Werbebroschüre des Jackson Laboratory (Jax).

Die professionellen Mäusezüchter im US-Bundesstaat Maine bieten 2500 maßgeschneiderte Mausmutanten feil und setzten damit im vergangenen Jahr 46,3 Millionen Dollar um. Jax-Mitarbeiter verschicken im Schnitt 40 000 Mäuse pro Woche an Forscher in aller Welt - Mäuse mit Übergewicht, Diabetes oder neurologischen Defekten, die menschliche Krankheiten abbilden sollen.

"Eine Maus ist aber kein Reagenzglas", sagt Würbel - je nachdem, wie die Tiere in den Versuchslabors leben, kann dieselbe Fragestellung vollkommen verschiedene Antworten hervorbringen:

Emma Hockly vom Londoner King's College erforscht ein Mausmodell für die Nervenkrankheit Chorea Huntington. Bei Mäusen aus Standardhaltung schreitet das Leiden schnell voran. Als Hockly jedoch die Käfige einiger Versuchsmäuse mit Spielzeug ausstattete, zeigten diese wesentlich mildere Symptome.

Den Versuchsmäusen des Molekularbiologen Joe Tsien von der Princeton University fehlt ein bestimmtes Gen, das als besonders wichtig für die Gedächtnisbildung gilt. In seinen Experimenten erwiesen sich diese Mäuse tatsächlich als recht vergesslich - allerdings nur, wenn sie in leeren Käfigen lebten. Eine Kontrollgruppe mit demselben Gendefekt, die sich in Unterkünften mit Laufrädern und anderem Spielzeug vergnügen durfte, hatte keine Erinnerungslücken.

Ein ausgeschaltetes Gen für einen bestimmten Rezeptor im Gehirn führte bei den Versuchsmäusen des US-amerikanischen Suchtforschers John Crabbe zu einer Vorliebe für Alkohol. Bei Mäusen desselben Stamms, die in einem anderen Labor aufgewachsen waren, blieb der Effekt aus.

Verschiedene Studien haben gezeigt, dass sich bei Mäusen, die in einer unterhaltsamen Umgebung leben, mehr Nervenzellen und Synapsen im Gehirn entwickeln als bei ihren Artgenossen in standardisierter Unterbringung. Selbst das Wachstum von Tumoren schreitet bei Mäusen aus angereicherter Haltung langsamer voran.
"Experimente unter standardisierten Bedingungen sagen noch nicht einmal viel über Mäuse im Allgemeinen aus", spottet der kalifornische Forscher Garner, "geschweige denn über Menschen, die bekanntlich in einer extrem abwechslungsreichen Umwelt leben."
"In dem Bereich gibt es ein riesiges Forschungsdefizit", urteilt auch Norbert Sachser, Verhaltensbiologe an der Universität Münster. Sachser beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, wie die Unterbringung Verhalten und Physiologie von Versuchstieren beeinflusst. "Nur wenn unter verschiedenen Bedingungen reproduzierbare Ergebnisse herauskommen, arbeiten wir auch an den richtigen Fragen", glaubt der Biologe, "und nicht an Artefakten, die nur durch die Käfighaltung entstehen."

Das Unterhaltungsprogramm für die Tiere kann allerdings auch neue Probleme schaffen. Denn möglicherweise verhalten sich Mäuse mit Laufrad und Klettergerüst zwar eher mausgerecht. Die Mäuse-Wellness könnte aber dafür sorgen, dass Versuchsergebnisse breiter streuen und Wissenschaftler mehr Tiere einsetzen müssen als bisher, um statistisch abgesicherte Resultate zu erzielen.

Um diese Möglichkeit zu überprüfen, wird Würbel seine Mausgruppen nach sechs Wochen in den unterschiedlichen Käfigen verschiedenen Verhaltenstests unterziehen - und das nicht nur in Gießen, sondern auch in zwei weiteren Labors in der Schweiz, wo derzeit derselbe Versuchsaufbau steht. So kann er sehen, welche Gruppe die statistisch robusteren Daten liefert.

Das könnte demnächst für viele Wissenschaftler interessant werden. Denn eine neue EU-Richtlinie, die von den Ländern noch umgesetzt werden muss, verlangt tiergerechte Abwechslung im Mäusekäfig. "Environmental enrichment", so der Fachbegriff für die Möblierung der Nager-Zellen, wird möglicherweise die neue Norm in der Versuchstierhaltung.

Vera Baumans, Professorin für Labortierkunde am Stockholmer Karolinska-Institut, entwickelt deswegen schon Standards für angereicherte Käfige. Ganz so luxuriös wie Würbels Versuchsunterkünfte werden die jedoch wahrscheinlich nicht - nach derzeitigem Stand müssen ein bisschen Papier fürs Nestbauen und ein Unterschlupf genügen.


quelle: spiege.de, 11. August 2003



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